Offener Brief: Es geht um unsere Kinder! - Ein Brandbrief

Erstellt von Martin Löwe | | Information

Sehr geehrter Herr Staatsminister!

Die zweite Welle der Pandemie zwingt bayernweit viele Familien in die Knie. Kinder laufen Gefahr, vollends abgehängt zu werden. In einem Viertel der bayerischen Elternhäuser herrscht Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit. Die Sorge um Einkommen und Arbeitsplatz drückt. Allzu oft hören wir schon jetzt: Weihnachten wird ausfallen. Die Finanzierung platzt. Die eigenen vier Wände wackeln.

Krisen steht man gemeinsam besser durch. Gelungene Erziehungspartnerschaft wäre es, wenn die Institution Schule in der Pandemie die Belange der ihr anvertrauten Kinder und deren Familien berücksichtigen würde. Das Gegenteil ist leider der Fall:

  • Das KM hat den Takt der Leistungserhebungen seit Schuljahresbeginn so massiv forciert, dass die Kinder und mit ihnen die Familien nur noch ächzen.

  • Es ist ja eine der allzu gerne verdrängten Wahrheiten unseres bayerischen Schulsystems: Eltern sind als Nachhilfelehrer die tragende Säule der Schulen; über 61 Prozent der Bayern sagten schon vor der Pandemie, dass in Bayern von unseren Schülern zu viel verlangt wird (DIE WELT vom 12.03.2017: repräsentative Studie der GfK). Das war und ist in Deutschland mit deutlichem Abstand Negativrekord.

  • Wie soll nun von Kindern der im letzten Jahr versäumte Stoff nachgelernt und gleichzeitig neue Inhalte verinnerlicht werden – quasi der doppelte Stoff verinnerlicht werden?

  • Seit der ersten Welle sind wir Eltern nicht nur Nachhilfe-, sondern de facto Ersatzlehrer. Denn: Arbeitsblätter zu versenden, auch wenn es digital geschieht, verdient den Namen „Unterricht“ nicht. Gelernt und gelehrt wurde und wird daheim vor allem – mit den Eltern.

  • Das Versprechen, zunächst die von der ersten Welle versprengten und verlorenen Kinder einzusammeln, wird Tag für Tag gebrochen. Ein effektives, systematisches Bemühen darum ist jedenfalls landesweit nicht mehr erkennbar. Seit den Sommerferien wird geprüft, was die rote Tinte hergibt – als drohe der Notenschluss binnen Wochenfrist: Exen bereits in der ersten Schulwoche, fünf Stegreifaufgaben an einem Zehnstundentag in der Mittelstufe, Schularbeiten in einer Dichte wie nie gehabt, alte Vereinbarungen zur Entzerrung der Schulaufgaben werden ohne Konsultation der Schulforen über den Haufen geworfen! Die Lehrerschaft soll um das goldene Kalb der Notengebung tanzen und kann sich dadurch auf das, was wirklich wesentliche Bildung ist, nicht konzentrieren. So werden viele Kinder durch die Pandemie zu Verlierern. Wir haben massive verfassungsrechtliche Bedenken gegen die derzeit vergebenen Noten. Der Leistungs- und Bildungsstand des einzelnen Schülers hängt in der Pandemie mehr denn je von elterlicher Unterstützung und Förderung ab. Besonders sozial schwache und bildungsferne Familien kommen ins Hintertreffen. Wenn Schüler oder erhebliche Teile einer Klasse unverschuldet in Quarantäne müssen, haben sie ebenfalls massive Nachteile gegenüber denen, die weiter präsent unterrichtet werden. Ein sozialer Nachteilsausgleich ist unabdingbar, wird aber weder erwogen noch gewährt. Das verletzt die nach Art. 3. Abs. 1, 12 Abs. 1 GG zwingend gebotene Chancengleichheit. Die Chancengleichheit der bayerischen Schulen darf in der Pandemie nicht verloren gehen!

  • Schülern, die trotz aller Bemühungen in der Pandemie nicht mitkommen und eine Jahrgangsstufe zurückgehen, darf die Zeit nicht auf die Höchstdauer der Ausbildungszeiten angerechnet werden. Im Gegenteil: Es muss endlich sichergestellt werden, dass ein Wiederholen im Pandemiejahr ohne Folgen bleibt.

  • Es ist ökonomisch unsinnig, wenn jeder der 120.000 bayerischen Lehrerinnen und Lehrer für seinen Unterricht im Homeoffice seinen eigenen digitalen Unterrichtsinhalt erstellt. Wenn zum Beispiel zentral koordiniert jeder von ihnen nur einen digitalen Unterrichtsinhalt erstellen würde, der dann für alle abrufbar wäre, wären dringend benötigte Ressourcen der Lehrerschaft für individuelles Feedback und individuelle Betreuung unserer Kinder frei.

  • An den Schulen herrscht - auch acht Monate nach Beginn der Pandemie - digitales Chaos: Lizenzen wie MS Teams haben wohl die Lebenszeit einer Eintagsfliege. Es gibt Schulen, die bis zu sieben, acht digitale Kanäle bespielen (MS Teams, Schul.Cloud, Mebis, schuleigene Lernplattform, DSBmobile, E-Mail, Info-Portal, ESIS). Können Sie uns erklären, warum eine einzelne Schule so viele digitale Kanäle braucht? Wenn nein, wie sollen wir Eltern da den Überblick behalten, die wir trotz Pandemie und trotz Home Schooling nebenbei noch den Lebensunterhalt der Familie verdienen?

  • Selbst simpelste Lüftungsregeln werden diffus umgesetzt: Landauf, landab klagen Eltern, dass noch Ende Oktober dauergelüftet wird. Kinder von Garmisch bis Coburg frieren, erkälten sich, erkranken und verpassen deswegen noch mehr Unterricht. Ob Sie es glauben oder nicht: Es gibt Kinder, die sehen seit Wochen die Tafel nur noch durch eine geöffnete Scheibe.

  • Nach wie vor fehlt den Schulen der technische Support, wenn IT-Probleme auftauchen. Und erst recht den Eltern. Seit Jahren fordern wir qualifizierte, feste IT-Mitarbeiter für unsere Schulen (vgl. z.B. Karlstadter Aufruf 2018 der bayerischen Spitzenverbände). Es rächt sich nun mehr denn je, dass auch Sie leider nicht auf uns hörten. Glasfaserkabel müssen verlegt, Server angeschlossen und Endgeräte regelmäßig gewartet werden, um sinnvoll im Unterricht eingesetzt werden zu können.

  • Im Bus stehen Kinder aller Klassen und Schulen trotz Verstärkerbussen noch eng an eng. Das widerspricht allen Regeln, die wir von unseren Kindern seit Beginn der Pandemie einfordern.

Darum: Es reicht. Bis hierher und nicht weiter. Steuern Sie um, sofort! Und leben Sie der bayerischen Schule vor, was Erziehungspartnerschaft heißt: Gemeinsam einander zuhören, wechselseitig Rücksicht nehmen, alle Perspektiven integrieren, die Kinder gemeinsam im Blick haben!

Was spricht dagegen, sofort den Stoff aller Lehrpläne inhaltlich zu priorisieren und landesweit einheitlich zu takten? Eine entscheidungsfreudige wie fähige Kommission könnte ein Konzept in drei Nachtschichten erarbeiten. Was mangels Präsenzunterricht nicht mehr im verträglichen Takt unterrichtet wird, muss in dieser Situation aus dem Lehrplan fallen. Besser der Stoff wird beschnitten als die Zukunftschancen unserer Kinder. Der Lehrplan ist kein Götze, dem wir in der Pandemie unsere Kinder geopfert sehen wollen. Niemand kann in der halben Zeit alles schaffen.

Ehe weiter auf Teufel komm‘ raus, benotet wird, müssten systematische landesweite Lernstandserhebungen ohne Notengebung stattfinden. Nur so ließe sich ermitteln, was wirklich in der ersten Welle angekommen ist, wo Lücken entstanden sind. Denn nur weil etwas online abgehandelt wurde, ist es nicht gelernt. Wo ist Ihr Konzept, welcher Stoff des letzten Halbjahres wann und wie in welcher Jahrgangsstufe nachgeholt und welcher gestrichen wird? Wir vermissen das bis heute.

Wenn Schule nicht auf die Nöte und Anliegen der Elternschaft hört, untergräbt sie das Vertrauen in unsere demokratischen Institutionen. Die Zeiten des besonderen Gewaltverhältnisses sollten lange vorbei sein, auch wenn es in Bayern wieder öfter anders anmutet. Für Familien ist es essentiell, dass im Online-Unterricht die Aufgaben jedenfalls für die jüngeren und mittleren Klassen nicht erst morgens ab 8 Uhr für denselben Tag hochgeladen und versandt werden, sondern allerspätestens am Vorabend um 18 Uhr. Wie denn sonst sollen Eltern, die morgens zur Arbeit müssen, ihren Kindern das Lernmaterial bereitstellen und erläutern?

Sehr geehrter Herr Staatsminister, wir müssen dringend reden und handeln, jetzt, nicht erst demnächst. Wir brauchen eine Bildungspolitik, die Erziehungspartnerschaft wirklich lebt und nicht nur davon redet.

Wir Eltern werden nicht hinnehmen, dass unsere Kinder durch die Pandemie zu Verlierern werden.

Mit freundlichen Grüßen

Susanne Arndt
Vorsitzende der Landeselternvereinigung der Gymnasien in Bayern e.V. (LEV)

Martin Löwe
Landesvorsitzender des Bayerischen Elternverbands e.V. (BEV)